Der Apfelbaum
Mein Freund der Baum...
...ist nicht tot, denke ich, als ich an diesem Frühlingstag in Freienfels unter ihm unser mittelalterliches Lager aufbaue. Schon lange kenne ich diesen Baum unweit der Straße – vergessenes Relikt einer alten Obstplantage – und immer wieder fasziniert er mich. Seine Rinde uralt grau und rissig, aufgebrochen an vielen Stellen, in denen man einen Blick auf das wimmelnde Innenleben seiner Bewohner werfen kann. Unzählige Insekten haben hier ihre Heimat, leben von und mit dem Baum.
Seine mächtigen Äste mit Flechten bedeckt reckt er seine Krone noch immer unverwüstlich in den Himmel. Einer seiner mächtigsten Seitenäste senkte sich unter dem Gewicht des Alters über Jahre gen Boden, brach vielleicht im letzten Sturm fast zur Gänze ab. Und dennoch stützt sich der alte Baum damit gleichsam wie mit einem Arm aufs Erdreich, als wolle er seine Wurzeln aus dem Schoß der Erde ziehen und sich einen anderen Standort suchen. So wirkt er im Moment dieser Bewegung erstarrt, wie von Zeit und Alter eingeholt – und dennoch vergeht die Zeit für Bäume ganz anders als für Menschen, so dass wir seine Bewegung unterhalb unserer Wahrnehmung nicht verfolgen können.
Große Mistelbüsche haben sich längst als Parasiten an seinen Ästen breit gemacht – auch sie leben vom Baum und mit dem Baum, immergrüne Zeichen des Lebens, als Symbol für das ewige Leben geschätzt und begehrt. Sowohl Heilmittel, als auch Gift steht diese Druidenpflanze hierzulande unter Naturschutz und kann nicht mit einer goldenen Sichel geerntet werden. Ich möchte auch keine Hand anlegen, um sie abzuschneiden, denn sie schmücken die Krone des Baums gleich einer Haartracht, solange er nicht selbst in Blüte steht. Die Knospen und Blattansätze bereits überreichlich vorhanden, wartet der Baum nur noch auf die ersten warmen Tage, um seine Pracht zu zeigen – und die Wärme der Sonne lässt ihn und uns gewiss nicht im Stich. Denn jedes Jahr um diese Zeit ereignet sich das gleiche Schauspiel, wenn die Zelte und mittelalterlichen Lager diese Wiese während der Ritterspiele bevölkern und Gewandete in seinem Schatten Geschichten erzählen und am Lagerfeuer singen und am Ende unter seiner Blütenpracht liegen.
So bette ich heute mein Haupt unter seinem wispernden Wipfel tief in der Nacht zur Ruhe und lausche noch den Käuzchen vom nahen Waldrand, deren Schreie mich in den Schlummer begleiten.
Ganz anders weckt mich am Morgen noch zur blauen Stunde unmittelbar vor Sonnenaufgang der wunderbare Gesang der Amseln, Finken, Meisen und einer einzelnen Nachtigall, die den Tag jubelnd begrüßen. Kaum fassen kann ich mein Glück, diesen Vogelstimmen lauschen zu können. Als Mensch der Großstadt hört man solche Klangfülle sehr selten, wenn überhaupt und niemals so nah und laut – denn die Stille um den Vogelgesang herum ist perfekt. Niemand regt sich, alles schläft noch, außer mir und den Vögeln. Ich gehe Wasser holen, um den Kessel aufs Feuer zu setzen und die Glut des abendlichen Lagerfeuers neu zu schüren, damit meine Freunde zum Aufwachen bereits eine Kanne Tee und Kaffee erwartet. Plötzlich raschelt etwas zu meinen Füßen unter dem losen Geäst, das als Bruchholz am Fuße des Apfelbaums liegt. Meine Schritte verlangsamend halte ich Ausschau – eine Maus? Nein, ein seltener Feldhamster ist es tatsächlich, dessen Bau sich unter den Wurzeln des Baums befindet und der ebenso wie ich seinen allmorgendlichen Geschäften nachgeht. Verwundert schüttle ich den Kopf und freue mich, obwohl dieser Moment nicht mit einer Kamera festgehalten werden kann.
Auf dem Rückweg vom Wasser holen mit Joch, die Eimer rechts und links pendelnd und mit wiegendem Gang, den man aus den Hüften heraus dabei entwickelt, werde ich gleich wieder von etwas in den Bann gezogen: ein Vogel schießt quer vor mir über den Pfad und landet senkrecht am Baum direkt vor einem kleinen Loch, das in einen Hohlraum im Innern des Baums zu führen scheint. Der Vogel hat Futter oder Nestmaterial im Schnabel und jetzt ist meine Aufmerksamkeit gänzlich geweckt. Lauschend höre ich hungrige Vogelkinder aus dem Baum nach Futter rufen und beobachte staunend, wie der Vogel durch das enge Loch zu seinen Jungen schlüpft. Ein gut geschützter Platz – so wird der alte Apfelbaum auch noch zur Kinderstube für den Vogelnachwuchs. Das rege Treiben der ein- und ausfliegenden Elternvögel lässt sich den ganzen Tag über gut verfolgen, und wann sonst bietet der hektische Alltag schon Möglichkeiten und Zeit, solche Dinge wahrzunehmen und zu studieren.
Am Nachmittag kommen die Bienen und Hummeln, denn in der warmen Mittagssonne sind die allerersten Blütenstände aufgegangen und bieten ihnen Nahrung nach dem langen Winter. Morgen ist Beltane – und um das Bild von Übermaß an Leben, Wachstum und Gedeihen an diesem kleinen Ort, um diesen alten Apfelbaum herum zu vervollständigen, fliegen am Abend dieses Tages auch noch die ersten Maikäfer. Dieser Ort ist der Einzige mir bekannte, der jedes Jahr Maikäfer zuhauf hat – oft so viele, dass etliche der Mädchen und Frauen sie als Plage empfinden, wenn die Käfer wie Motten vom Licht angezogen schwer brummend in die Zelte an die Laternen fliegen und auch in Haare und Kleider geraten. Manche wissen nicht, was das für dicke große Käfer sind und kreischen voller Panik, bis man sie über dieses erstaunliche und harmlose Naturschauspiel aufklärt – und vor allem über seine Seltenheit.
In dieser Nacht zu Beltane bleiben die meisten Feuer hell lodernd bis zum Morgengrauen brennen, es wird gefeiert, Met, Bier und Wein getrunken, gesungen, gelacht, gescherzt, geliebt – alles steht unter Spannung und Erwartung, in Vorfreude auf den Beginn des Frühsommers, den ersten Maivollmond. Und auch, wenn in dieser Beltane-Nacht der Mond nicht ganz voll gerundet hell am Himmel steht, so feiern wir dennoch in seinem silbernen Licht das Leben in allen Formen und die Natur feiert mit uns.
Am Morgen des 1. Mai steht dann der alte Apfelbaum über und über in weiß-rosa Blüten, selbst der nahezu abgebrochene Ast. Wir riechen den süßen Duft der Blüten und erfahren wieder einmal, dass uns das Wunder des Lebens auch im Alltag begegnen kann – wenn wir uns die Zeit nehmen, genauer hin zu schauen, langsamer werden, inne halten, tief einatmen und der Welt um uns die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdient. Hier liegt die wahre Magie, der Zauber und die Stimmung, die Möglichkeit, eins zu werden mit der Schöpfung um uns herum, achtsam mit ihr umzugehen und mit ihr gemeinsam den einen Augenblick perfekter Harmonie zu erschaffen. Darum besuche ich „meinen“ alten Apfelbaum jedes Jahr - seit nun mehr 20 Jahren. Darum achten alle umliegenden Lager hier darauf, dass unsere Feuer seinen Ästen und Zweigen nicht zu nahe kommen und keinen Schaden zufügen. Und ich hoffe, ich darf diesen Freund noch viele Jahre sehen im Kreise seiner Bewohner und im Kreise der Gemeinschaft zwischen Menschen und Schöpfung, wie ich sie hier jedes Jahr dankbar erleben kann.
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